Das Märchen vom Triebstau
Im Zusammenhang mit vielen „Erziehungsmethoden“ und auch Sportdisziplinen rund um den Hund hört man immer wieder das Wort „Triebstau“. Vielfach wird dann geäußert, dass der Hund ja Triebe, wie z. B. den Jagdtrieb hätte, den er als Raubtier unbedingt benötige. Wenn er diesen nicht regelmäßig ausleben könne, würde sich der Treib „aufstauen“ und ggf. könnten „aufgestaute Triebe“ zu Überreaktionen des Hundes führen, bis zu stark aggressivem Verhalten. Das hört sich auf den ersten Blick schlüssig und logisch an und diese Theorie hält sich daher hartnäckig unter Hundehaltern. Klingt schlüssig – aber ist sie deswegen auch richtig?
Um diese Frage näher zu erläutern, müssen wir uns der Theorie dort nähern, wo sie begann. Die Theorie des Triebstaus beruht auf der so genannten Leerlauftheorie innerhalb der Instinktheorie von Konrad Lorenz. Lorenz ging davon aus, dass ständig eine „aktionsspezifische Energie“, eine „Triebenergie“ im Tier aktiv, bzw. präsent wäre. Diese Triebenergie sollte praktisch immer zur Verfügung stehen, wenn der dazugehörige Trieb ausgelebt werden müsse. Fliehen, jagen oder paaren. Wenn es jedoch zu keiner Endhandlung komme (kein Feindkontakt, keine Beute oder keine Geschlechtspartner) würden diese Treibenergien immer mehr und sich irgendwann aufstauen – so weit, dass sie sich irgendwann irgendwie entladen müssten. Durch Unruhe, sinnlose Handlungen etc. Zusätzlich würde der „Schwellenwert“ heruntergesetzt, das Tier würde schneller und öfter auf Reize stark reagieren. Klingt immer noch schlüssig, allerdings sollte man an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass Konrad Lorenz die Theorie aufgrund seiner Interpretation von wenigen, für ihn seltsamen Handlungen einiger Tiere aufstellte. Wissenschaftlich nachgewiesen und mit empirischen Daten unterlegt hat er die Theorie nie. Trotzdem wird sie bis heute oft unreflektiert als Grundlage im Umgang mit Hunden genutzt.
Schlüssige Theorie?
Auch wenn die Theorie logisch klingen mag, wer sich aber genauer mit der Natur beschäftigt, und vor allem mit den Überlebensstrategien von Wildtieren in ihrem natürlichen Umfeld, sollte bei der Theorie eigentlich ins Grübeln kommen. Und sich die ganz wichtige Frage stellen, die eigentlich für jedes Wildtier eine existentielle Bedeutung hat. Die Frage der Energieeffizienz. Die Evolution hat es so eingerichtet, dass jedes Lebewesen die ihm zu Verfügung stehenden Energien (die ihn „am Laufen“ halten) sehr effizient und vor allem sparsam einsetzt. Weil Energie, weil Nahrung nicht immer im Übermaß zur Verfügung steht. Wenn jetzt also ständig eine Triebenergie fließen würde, von der der Körper nicht weiß, wann er sie gezielt einsetzen kann, wäre das recht unökonomisch. Man könnte das, um es etwas plastischer zu verdeutlichen, damit vergleichen, dass der Motor eines Autos immer im Stand laufen müsse, damit ich irgendwann losfahren kann. In dem Falle wären die Erdölreserven der Erde wohl in einige Wochen verbraucht…
Die Energie des Autos ruht solange, bis wir durch Schlüsseldrehung den Motor starten. Erst dann können wir fahren und die Energie gezielt für die Fahrt verwendet. Nicht viel anders „funktioniert“ ein Lebewesen, vom Insekt bis zum Menschen. Für bestimmte Tätigkeiten werden Energien benötigt. Mal mehr, mal weniger – und immer wird durch das herumdrehen des Schlüssels, einem Schlüsselreiz, der Motor angesprochen, der die entsprechende Handlung umsetzt. Zwar läuft unser „Motor“ immer, um z. B. unsere Vitalfunktionen aufrecht zu erhalten, damit wir uns bewegen und atmen können etc.
Energieverschwendung
Werden aber weitaus energieintensivere Tätigkeiten benötigt (Flucht, Kampf, Jagd, Paarung), wird das zentrale Nervensystem über den entsprechenden Impuls, den Reiz (Schlüssel) angesprochen, welches wiederum dafür sorgt, dem Körper die notwendigen Energien zur Verfügung zu stellen um die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Durchblutung steigern, Muskeln anspannen etc.
Energien werden aus logischen, ökonomischen Gründen immer erst dann abgerufen und benötigt, wenn ein Reiz diese anfordert. Ein Raubtier zum Beispiel, welches hungrig ist, begibt sich auf die Suche nach Beute. Findet es eine potentielle Beute wird über das Erblicken der Beute das Zentralnervensystem stimuliert, welches dem Körper blitzschnell die nötigen Energien zur Verfügung stellt, welches es zur Jagd benötigt. Verschwindet das Beutetier aber plötzlich oder wird die Jagd aus irgendwelchen anderen Gründen abgebrochen, müssen natürlich die kürzlich erzeugten Energien trotzdem irgendwie verwendet werden. Dann gibt es durchaus Leerlaufhandlungen, heute spricht man eher von Übersprungshandlungen. Das ist dann z. B. ein Kratzen oder Gähnen oder irgendetwas anderes, eigentlich in der Situation unpassendes Verhalten – um die zuvor erzeugte, zielgerichtete Energie abzubauen. Auch wenn das Ziel verschwunden ist. Eine Leerlaufhandlung ist daher kein grundsätzlich falscher Gedanke. Die Annahme aber, dass ständig eine Energie erzeugt wird, nur für den Fall, dass der Hund einem Trieb irgendwann nachgehen wird, konnte mit den modernen Mitteln der Neurobiologie nicht nachgewiesen werden. Im Gegenteil sogar, man kann ziemlich sicher davon ausgehen, dass Energien nur dann abgerufen werden, wenn ein spezieller Reiz einen Trieb oder eine Motivation auslöst, um z. B. zu jagen. Alles andere wäre aus evolutionären Gründen nicht erklärbar. Welchen Vorteil sollte es haben, wenn ständig Leerlaufhandlungen ohne vernünftigen Grund (Reiz) durchgeführt würden. Es wäre nichts weiter als eine gewaltige Verschwendung von Energien. Ein Aufstauen von dauerhaft vorhandener Triebenergie gibt es daher nicht – einen „Triebstau“ gibt es nicht. Im wissenschaftlichen Kontext ist man sich da heute weitgehend einig. Wo der Triebstau immer noch regelmäßig als Rechtfertigung herhalten muss sind die Hundeerziehung und da im Speziellen diverse Hundesportarten. Damit man mich nicht falsch versteht. Ich habe nichts gegen Hundesport an sich. Da der Hund kein Wildtier mehr ist, welches sich, zumindest bei uns in Mitteleuropa, ständig mit dem „Energiesparen“ beschäftigen muss, liegt die Sache ganz anders. Wir füttern den Hunden im Allgemeinen überschüssige Energiereserven an, die natürlich auch abgebaut werden müssen. Adäquate Beschäftigungen im wohldosierten Umfang sind daher für Hunde ganz wichtig. Aber diese angefütterten Energiereserven sind für alle notwendigen Handlungen zuständig – es gibt keine, und vor allem keine aufgestaute Energie speziell für die Jagd und eine andere Energie, die bei der Flucht benötigt wird. Ein Fahrzeug hat ja auch keinen Tank für den Vorwärtsgang und einen für den Rückwärtsgang 😉
Energiereserven sollten also in vernünftigem Umfang, durch Bewegung oder geistige Aufgaben, abgebaut werden, was letztlich dem körperlichen und geistigen Wohlbefinden zugutekommt.
Unterschiedlich starke Stimulanz
Wichtig ist bei diesem Thema noch zu erwähnen, dass es Hunde- und Hunderassen gibt, die augenscheinlich einen stärkeren Trieb in unterschiedlichen Bereichen haben, als andere Hunde. Als Beispiel kann man da Jagdhunde anführen, die oft heftiger und schneller auf den Reiz reagieren, der den Jagdtrieb auslöst. Das hat aber nichts damit zu tun, dass diese mehr „Triebenergien“ für die Jagd hätten. Dass der Gedanke heute so nicht mehr gehalten werden kann, hatten wir ja schon erläutert. Es ist vielmehr so, dass der Teil des zentralen Nervensystems, welcher für die Erzeugung der Energien und die notwendige Erregung zuständig ist(der Sympathikus), schneller und leichter durch einen triebauslösenden Reiz stimuliert werden kann. Das wurde und wird durch Selektion erreicht. Eine „triebstarker Hund“ reagiert also nur sensibler auf einen auslösenden Reiz und hat nicht mehr „Treibenergien“, wie schon erläutert. Je häufiger man übrigens den Sympathikus mit einem auslösenden Reiz stimuliert, desto sensibler reagiert dieser auf diese Reize. Das heißt, wenn ich zum Beispiel einen Jagdhund ständig mit einer Reizangel stimuliere, also häufig den Jagdtrieb abrufe, wird dieser immer stärker statt schwächer. Einen Hund mit großer Jagdleidenschaft sollte ich also nicht mit jagdsimulierenden Spielen beschäftigen. Was leider in der Jagdhundeausbildung oft passiert. Da wird die Reizschwelle für das Jagen immer stärker herabgesetzt, die Hunde sollen also auf den Reiz eines flüchtenden Beutetieres sehr sensibel reagieren. Um dann, oft mit „unfreundlichen“ Mitteln, wieder von der Jagd abgebracht zu werden – der Hund soll also „Gehorsam“ lernen. Auch dann, wenn er dabei ist seinen natürlichen Trieb auszuleben, der zuvor ausgelöst wurde. Ein Trieb, der ausgelöst wurde, dann aber nicht ausgelebt werden kann, führt unweigerlich zu Frustration. Und Frustration kann sich aufstauen…
Ähnlich ist es übrigens auch bei den vorher bereits erwähnten speziellen Hundesportarten, die sich über Triebstau rechtfertigen. Durch ständiges, künstliches aussenden von Reizen und danach immer folgenden Abbrüchen (auch oft über unangenehme Mittel für den Hund), werden viele frustrierte Hunde erzeugt…
Wie gesagt, ich habe natürlich nichts gegen Hundesport, wo Hunde eine Beschäftigung bekommen, die ihnen und ihren Besitzern „Spaß“ macht und für Körper und Geist gesund ist. Aber Hundesport, bei dem nur der Besitzer Spaß hat, der Hund aber letztlich nur frustriert wird, findet meine Zustimmung sicher nicht. Auch wenn als Rechtfertigung immer wieder das Märchen des Triebstaus herhalten muss.
Spezielle Sportarten oder Ausbildungsmethoden möchte ich hier nicht nennen, sondern nur die Hundebesitzer zum Nachdenken anregen, ob sie wirklich immer mit den korrekten Informationen versorgt sind, wenn es um das Wohlergehen des Hundes geht…
Autor: Thomas Riepe
Zum Quellennachweis:
Der Artikel stützt sich nicht auf eine Quelle, sondern beruht auf einer ganzen Reihe von Quellen, die voneinander unabhängig sind.
Einige der Quellen seien an dieser Stelle gern genannt:
Hanna-Maria Zippelius: Die vermessene Theorie. Vieweg 1992
Klaus Immelmann, Klaus R. Scherer, Christian Vogel: Psychobiologie. Grundlagen des Verhaltens. Beltz-Verlag 1988
Wolfgang Wickler: Von der Ethologie zur Soziobiologie. In: Jost Herbig, Rainer Hohlfeld (Hrsg.): Die zweite Schöpfung. München, 1990
W. Müller, S. Frings: Tier- und Humanphysiologie. 4. Auflage, Springer 2009
Gerhard Heldmaier, Gerhard Neuweiler: Vergleichende Tierphysiologie. Springer 2003
…sowie eigenen Verhaltensbeobachtungen und Analysen an Wild- und Haushunden (1997 – 2011)